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SichtWeisen Leander Lelouvier: Digitale Demokratie in der Schweiz | Bild von Andreas Lischka auf Pixabay

Digitale Demokratie in der Schweiz

Wird über Demokratie und Digitalisierung diskutiert, werden sofort gehypte, US-importierte Begriffe wie microtargeting, gatekeeping oder election meddling in die Runde geworfen. Doch was bedeuten diese und inwiefern kann man solche Phänomena hierzulande tatsächlich beobachten?

E-voting (alias die elektronische Stimmabgabe) ist in der Schweiz noch keine Realität und wird es voraussichtlich auch in naher Zukunft nicht werden. Obwohl seit 15 Jahren Projekte zu dessen Einführung existieren, sind diese momentan auf Eis gelegt. Weder Technik noch Gesellschaft scheinen dafür bereit zu sein. Einen anderen Bereich des demokratischen Prozesses hat die Digitalisierung jedoch bereits stark beeinflusst: die Meinungsbildung. Online- und Social Media tragen zunehmend zur politischen Orientierung der Bevölkerung bei. Politikwissenschaftler und Historiker Claude Longchamp sieht dabei eine Chance für mehr politische Partizipation. Er behauptet, dass die Schweizer Printmedien ungleich verteilt sind und dass, ausserhalb der grossen Städte, Teile der Bevölkerung medial unterversorgt sind. Die Digitalisierung kann solche Probleme aufheben. Massenmedien und grosse Parteien würden dabei auch ihre Funktion als gatekeeper verlieren. Das bedeutet, dass sie ihre überdimensional wichtige Position in der politischen Meinungsbildung aufgeben und somit weniger Macht darüber ausüben, worüber und wie viel öffentlich diskutiert wird. Das erlaubt einen dezentralen, filterfreien Informationsfluss. Zusätzlich sind wir dank der Digitalisierung nicht ausschliesslich auf Schweizer Informationen angewiesen, wenn es um globale Themen wie dem Klimawandel geht.

Freier Zugang auch zu Desinformation

Die Aufhebung des Gatekeeper-Effekts hat aber auch negative Wirkungen: Randgruppierungen, Verschwörungstheoretiker*innen, Extremist*innen etc. bekommen einen direkten Zugang zur Öffentlichkeit. Das kann zu starker Polarisierung führen und schadet letztlich der Demokratie. Den Begriff election meddling kennt man vor allem aus dem US-Wahlkampf 2016. Ausländische Einmischung in einen Schweizer Wahlkampf gab es bisher bekanntlich kaum. Experten schätzen das Risiko gering ein: als Land sind wir zu klein und auf der Weltbühne zu uninteressant. Was in der Schweiz bei den letzten Wahlen jedoch schon weitgehend beobachtet wurde, ist das vielgerühmte microtargeting. Dabei wird politische Werbung im Netz für einzelne Gruppen oder gar einzelne Individuen zugeschnitten. Meistens wissen die Empfänger*innen der Werbung nicht, dass die Inhalte auf sie personalisiert sind. Diese Politwerbung-Strategie ist ebenfalls bei den US-Wahlen 2016 bekannt geworden, wo deren Schaltung, vorwiegend auf Facebook, eine Schlüsselrolle für Trumps Sieg zugesprochen wurde. Hierzulande wurde im Wahlkampf 2019 microtargeting von allen grossen Schweizer Parteien eingesetzt. Für die Parteien ist es billig und effizient; für die Öffentlichkeit ist der Mechanismus absolut intransparent. Gefährlich werden solche Werbungen, wenn sie Informationen so selektiv verbreiten, dass Kontext und Hintergrund dabei ausgelassen werden.

Mit der Digitalisierung stärker auf sich selbst angewiesen

Zu den Gefahren, welche die Digitalisierung mit sich bringt, muss man sagen, dass sie schlichter und unauffälliger sind als unsere medienbedingten Sensationsvorstellungen von bösen russischen Online-Trolls. Der Zugang zu Information wird freier und der Weg zur politischen Partizipation einfacher. Damit ist wiederum auch der Zugang zu Desinformation freier und die Gefahr zur Manipulation grösser. Bei der politischen Meinungsbildung sind Normalbürger*innen stärker auf sich selbst angewiesen. Das heisst letztlich für uns Wähler*innen: in der digitalen Demokratie gibt es keine Zeit zum faul sein!

Service Box

Dieser Beitrag wurde inspiriert von der Podiumsdiskussion „Staat – Demokratie – Digitalisierung“, die im Oktober 2019 in Zürich vom Collegium Helveticum gehalten wurde. Das Collegium befasst sich über mehrjährige Zeiträume jeweils mit einem Schwerpunktthema. Seit 2016 lautet dieses „digital societies“. Wegen dem Lockdown sind alle Event-Daten für die kommenden Monate abgesagt worden, doch bisherige Veranstaltungen wurden aufgenommen und sind im Archiv zugänglich.

https://video.ethz.ch/speakers/collegium-helveticum/digital-societies/staat_demokratiedigitalisierung/7747f28a-d2f7-44e5-b774-e36ffc9ee337.html

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Leander Lelouvier

Leander Lelouvier (21) ist gebürtiger Südtiroler, hat in den Niederlanden internationale Beziehungen studiert und wohnt heute in Zürich, wo er als freier Journalist schreibt. Am meisten interessiert er sich für die lokalen Auswirkungen globaler Entwicklungen. Wie diese die Bodenseeregion prägen, dem wird Leander im kommenden Jahr für SichtWeisen nachgehen.

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Unter «SichtWeisen» werden relevante (Zukunfts)Themen von sechs Jungjournalist*innen professionell aufgearbeitet. «Next Generation Bodensee» möchte mit diesem Projekt der nächsten Generation im IBK-Raum eine politische Stimme geben.