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SichtWeisen | Das hohe Alter als zweite Jugend | Foto von MART PRODUCTION von Pexels

Das hohe Alter als zweite Jugend

1915 betrug die weltweite Lebenserwartung bei der Geburt gerade mal 34 Jahre, heute liegt sie etwa bei 72 Jahren. In derselben Zeitspanne hat sich die Geburtenrate mehr als halbiert: Von etwa sieben, hin zu bloss zweieinhalb Geburten pro Frau. Beide Tendenzen setzen sich weiterhin fort und deren Resultat ist ein rasant steigendes Durchschnittsalter. In Europa sollen in 10 Jahren schon mehr als die Hälfte der Menschen über 50 sein.

Wir werden aber nicht bloss älter, sondern auch später alt: Dank den enormen Fortschritten in Medizin, Hygiene und Ernährung, bleiben wir immer länger gesund und aktiv. Dieses Phänomen beschreibt der Begriff Silver Society. Damit ist eine Gesellschaft gemeint, die zu einem großen Teil aus Menschen besteht, welche älter als 60 sind, sich aber jünger verhalten als bisherige Senior*innen.

Alternde Bevölkerung: Grund zur Sorge…

Die Aussicht auf eine rasant alternde Bevölkerung wirkt aufs Erste eher besorgniserregend. Es wird eine schrumpfende Anzahl der Erwerbstätigen und eine katastrophale Überforderung des Rentensystems befürchtet. Zugleich sehen die meisten Personen dem eignen Älterwerden nicht besonders positiv entgegen. Durch unsere jugendbesessene Kultur wird uns das Altern, insbesondere das hohe Alter, wenig schmackhaft gemacht. Das übt einerseits viel Druck auf die Jugendjahre aus, was bei jungen Leuten oft Unzufriedenheit auslöst. Andererseits sind dadurch unsere Erwartungen für das Leben im Alter sehr tief. Dabei weisen psychologische Auswertungen oft darauf hin, dass ältere Menschen generell glücklicher und zufriedener sind.

… oder zur Hoffnung?

Bei näherem Betrachten gäbe es viele Gründe, sich aufs hohe Alter zu freuen. Man könnte das Seniorensein eigentlich sogar als eine Art zweite Jugend ansehen! Die Jugend wird oft wegen der grossen Freiheit hochgepriesen oder weil einem alle Wege noch offenstehen. Doch im Rentenalter geniesst man ähnlich viele Freiheiten: Wenn man Kinder hat, sind diese schon lange selbstständig, man ist nicht mehr an einen Vertrag gebunden, ist unabhängiger und hat meistens mehr finanziellen Spielraum. Zwar ist der Körper zerbrechlicher, doch technische Fortschritte wie digital betreute Wohnformen und Automatisierung mildern die einschränkenden Effekte des Älterwerdens ab.

Die ältere Generation leistet wertvolle Beiträge

Auch gesellschaftlich und wirtschaftlich lässt sich eine alternde Bevölkerung positiv betrachten. Denn eine fitte Bevölkerungsgruppe, welche viel Zeit und Flexibilität geniesst, bleibt auch weiterhin produktiv. Die Alten werden zunehmend in flexiblen Verhältnissen, auch nach dem Ruhestand, arbeiten. Zum Beispiel durch freiwilliges Engagement bei Hilfsorganisationen oder im Kulturbereich. Auch Care-Arbeit durch Enkelkinderbetreuung, die alte Menschen vermehrt leisten können, darf nicht unterschätzt werden. Diese entlastet junge, erwerbstätige Eltern und treibt auch die Gleichberechtigung in der Erziehung voran.

Wie bereitet man die Zukunft vor?

Um diese positiven Entwicklungen zu erlauben, müssen viele Änderungen vorgenommen werden. Unsere Sozial- und Bildungssysteme, sowie unsere Arbeitsmärkte müssen alle reformiert werden, um flexiblere Arbeitsverhältnisse und lebenslanges Lernen zu erlauben. Ein flexibleres Rentensystem ist vorstellbar, welches sich weniger nach dem Lebensjahr der Person und mehr nach deren Gesundheitszustand richtet. Auch die physische Infrastruktur muss angepasst werden. Zum Beispiel in der Bodenseeregion, die durch ihre hohe Lebensqualität viele ältere Menschen anziehen wird, muss mehr gemacht werden für bessere, barrierefreie Mobilität im Nahverkehr.

Das hohe Alter positiv werten

Was es aber am Allermeisten braucht, ist eine grössere Wertschätzung für alte Menschen und Ermutigung dazu, sich im Alter weiter aktiv am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Die traditionelle Lebensplanung nach der Ordnung: Ausbildung, dann Arbeit und Familie, dann Ruhestand – muss komplett revidiert werden. Wir müssen eine Zukunft schaffen, in der man dem hohen Alter positiv entgegensehen kann, als einem Lebensabschnitt, der neue Gelegenheiten zur Selbstverwirklichung mit sich bringt, befreit von Erziehungspflichten und Leistungsdruck.

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Leander Lelouvier

Leander Lelouvier (21) ist gebürtiger Südtiroler, hat in den Niederlanden internationale Beziehungen studiert und wohnt heute in Zürich, wo er als freier Journalist schreibt. Am meisten interessiert er sich für die lokalen Auswirkungen globaler Entwicklungen. Wie diese die Bodenseeregion prägen, dem wird Leander im kommenden Jahr für SichtWeisen nachgehen.

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Unter «SichtWeisen» werden relevante (Zukunfts)Themen von sechs Jungjournalist*innen professionell aufgearbeitet. «Next Generation Bodensee» möchte mit diesem Projekt der nächsten Generation im IBK-Raum eine politische Stimme geben.