Es sind goldene Zeiten für Kulturpessimist*innen. Überall in der Welt, auch in Europa, stehen Demokratien unter Druck. Der Diskurs in den sozialen Medien befindet sich im Modus der Dauerempörung und die Corona-Krise hat gezeigt, dass ein nennenswerter Teil der Bevölkerung in einer anderen Realität zu leben scheint.
Was dies mit der Meinungsfreiheit zu tun hat? So wichtig es ist, das Mitreden zu ermöglichen, so gefährlich kann das Drauflosmeinen sein. Es kann eben auch heissen, die eigene kognitive Dissonanz sehr laut zu überspielen, ein falsches Gleichgewicht zwischen schlechter und besser begründbaren Positionen herzustellen oder Urteile zu fällen, bevor man die Gegenargumente gehört hat. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir alle (auch Akademiker*innen) wieder lernen, welche Spielregeln, Verfahren und Mindeststandards für unsere Diskurse gelten sollen, wie man Wahrheit von Lüge und Halbwahrheit unterscheidet und wie wir uns der Versuchung zur Eskalation Techniken der Selbstbeschränkung und die Fähigkeit, sich irritieren zu lassen, entgegenstellen.
Ein Blick auf unsere Region zeigt, dass es vielfältige Strategien gibt, um demokratische Diskurse in diesem Sinn zu stärken. So beschäftigt sich zum Beispiel ein Projekt der Internationalen Bodensee-Hochschule (IBH) mit der Frage, wo in Schulen Partizipation stattfindet und wie dort Demokratie ganz praktisch gelernt werden kann. Handlungsempfehlungen für die Stärkung von Beteiligungsprozessen auf lokaler und regionaler Ebene hat ein weiteres Projekt der IBH erarbeitet. Aus grenzübergreifender Perspektive zeigt sich dabei, dass politische Systemunterschiede weniger wichtig sind als Faktoren wie Wertschätzung, eine klare Definition über Umfang und Grenzen der Beteiligung oder – Stichwort Spielregeln – eine externe Moderation.
Im Rahmen der von Stiftungen aus dem DACH-Raum geförderten Initiative „Anstoss Demokratie“ schliesslich untersucht ein weiteres Projekt, wie mithilfe wissenschaftlicher Expertise „Ambiguitätstoleranz“ gefördert werden kann. In der Tat: Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir wieder akzeptieren könnten, dass Mehrdeutigkeiten und Widersprüche ganz normal sind, und wir weniger Meinung wagen.
Von Jens Poggenpohl
Jens Poggenpohl ist freier Journalist und beobachtet für die Internationale Bodensee-Hochschule Bildung, Wissenschaft und Forschung in der Vierländerregion Bodensee.