Menschen suchen stets nach Lösungen für anfallende Probleme. Als den Leuten in der Bibel ihr blosses Menschsein nicht mehr reichte, bauten sie einen Turm, um an Gottes Pforte zu klopfen. Und als jener sie dafür mit Sprachverwirrung bestrafte, erfanden sie trotzig die Übersetzung, die heute mithilfe des Internets universell zugänglich ist. Doch obwohl dadurch das Hindernis der Sprache bewältigt wurde, entstand im „Digital Age“ eine neue Herausforderung. In den sozialen Netzwerken verschärfen sich Differenzen, die noch tiefer greifen als der göttliche Fluch von Babel – Kluften zwischen verschiedenen Wirklichkeiten.
Der Weg zum Wirklichkeitspluralismus
Heute kann sich jeder Internetnutzer mithilfe der sozialen Medien Gehör verschaffen. Doch diese Errungenschaft ist ein zweischneidiges Schwert: Einerseits ermöglicht sie einen erstrebenswerten Meinungspluralismus, andererseits aber auch einen potenziell gefährlichen Wirklichkeitspluralismus. Damit ist gemeint, dass verschiedene und oft widersprüchliche Darstellungen derselben Wirklichkeit im Internet kursieren – die meisten davon falsch. Eine Studie des MIT zeigte, dass eine Wahrheit sechsmal länger als eine Lüge braucht, um 1‘500 Personen im Netz zu erreichen. Dabei kann man beobachten, dass sich viele Menschen einem Irrglauben verschreiben und durch die Falschinformationen in den sozialen Medien darin bekräftigt werden. Dadurch entstehen aber nicht nur unterschiedliche Meinungen, sondern gänzlich divergierende Faktenlagen, die eine produktive Diskussionskultur stark beeinträchtigen.
In den letzten Jahren reagierten die Betreiber der Plattformen mit einer eher symptomatischen Behandlung dieses Problems. Sie begannen damit, Beiträge als falsch zu markieren und Accounts zu sperren. Diese Entwicklung erlebte ihren bisherigen Höhepunkt im Platzverweis des US-Präsidenten Trump, der Twitter dafür verwendete, um den Mythos eines Wahlbetrugs zu verbreiten. Twitter-Gründer Jack Dorsey sieht in der Sperrung einen gefährlichen Präzedenzfall und ein Zeichen dafür, dass sein Unternehmen es nicht schaffte, eine gesunde Konversation zu ermöglichen.Tatsächlich geht vielen dieser Schritt zu weit, weshalb sie zusammen mit Nutzer*innen aus aller Welt auf alternative Netzwerke ausweichen.
Der neue Turm zu Babel
Wenn wir aber nicht nur verschiedene Sprachen der Wirklichkeit sprechen, sondern uns sogar auf verschiedenen Plattformen bewegen, die diese jeweiligen Wirklichkeiten abbilden, wird eine gemeinsame Diskussionskultur irgendwann unmöglich sein. Eine solche gesellschaftliche Spaltung würde jener aus der Erzählung um den Turm zu Babel um nichts nachstehen. Der Umgang mit Fehlinformationen ist daher ein wichtiger Teil der grossen Zukunftsherausforderung „Cyberspace Security“. Die Überzeugung der Autor*innen von „The Day After“ ist es, dass dieses Problem nicht von individuellen Akteur*innen gelöst werden kann, sondern einer hybriden Lösung bedarf. Grenzübergreifende Organisationen wie die IBK könnten dabei zu zentralen Angelpunkten werden, indem sie einerseits eine hybride Zusammenarbeit zwischen ihren Regierungen, Expert*innen und Zivilgesellschaften fördern und sich andererseits nach aussen für einen breiten Dialog einsetzen.
Jeder Artikel von Matthias Fleischmann liest sich wie ein spannungsgeladener Roman und ist doch immer hochaktuell und informativ. „Die Fragmentierung der Wirklichkeit“ gesellt sich zu einer Reihe solcher Texte.
Über die gesellschaftliche Spaltung habe ich auch schon geschrieben, da es meiner Meinung nach eines der wichtigsten gesellschaftlichen Konfliktbereiche dieser Zeit ist. Es braucht, wie der Artikel vorschlägt, eine holistische (bzw. „hybride“) Lösung. Hoffentlich erreichen wir dieses hehre Ziel mit Dialog, wozu auch SichtWeisen im Bodenseeraum beiträgt.
Danke für Deinen Beitrag Matthias Fleischmann. Deine Forderungen nach grenzüberschreitender Zusammenarbeit auch im Bereich Digitales ist ausgesprochen aktuell und wichtig.